Ich versuche bereits seit ein paar Stunden sie in einer ruhigen Minute zu erwischen, doch gerade als wir uns für das Interview im Backstage-Zirkuszelt zusammensetzen, fällt der Himmel aus allen Wolken. Der Regen ist so laut, dass wir uns kaum verstehen können. Machen wir das wirklich?
Sich für ein Gespräch auf einem Festival hinzusetzen, kann eine ziemliche Herausforderung sein, vor allem, wenn man so sehr in seine Musik involviert ist wie Julienne Dessange. Kurz nach dem Interview wird sie als Fantastic Twins auf der Hauptbühne Membrana ein Live-Set spielen. Meine Sorge ist jedoch unbegründet, denn sobald wir uns hingesetzt haben, tauchen wir beide schnell in die Gedankenwelt der Fantastic Twins ein.
Ich glaube, ich habe eine physische und emotionale Verbindung zu zeitgenössischer und klassischer Musik - mehr als eine intellektuelle Verbindung.
Julienne ist in Frankreich aufgewachsen, mit klassischer und zeitgenössischer Musik um sie herum. Sie begann schon sehr früh mit dem zeitgenössischen Tanz und war Teil einer Kompanie. Ihr Leben bestand aus semiprofessionellen Tourneen und sie wurde sogar für ihre Auftritte bezahlt. "Es gab eine Menge Philip Glass und Steve Reich, und damit bin ich aufgewachsen. Es ist ein bisschen seltsam, denn wenn man jung ist, ist es einem egal, wer das gemacht hat, wer wer ist." Als Kindertänzerin würde man sich schließlich nicht über die Musik unterhalten, zu der man tanzt. "Ich glaube, ich habe eine physische und emotionale Verbindung zu zeitgenössischer und klassischer Musik - mehr als eine intellektuelle."
"Erst später habe ich angefangen, elektronische Musik zu hören. Ich glaube, ich war 14... und dann hat es mich nie mehr verlassen." Nicht an der Oberfläche zu kratzen, sondern sich mit Konzentration und Leidenschaft in eine Sache zu vertiefen, das ist es, was Julienne als Künstlerin ausmacht. Sie hat eine ganze Welt um ihre Musik herum geschaffen. "Ich habe diese imaginären Zwillinge in meinem Kopf. Ich versuche, einen Dialog zwischen ihnen zu schaffen. Und ich denke, es ist interessant, einen Track mit verschiedenen Gesangsparts zu haben, die unterschiedlich behandelt werden, so dass man das Gefühl hat, dass ein Dialog im Gange ist. Auch mit dem Rest der Musik, mit dem instrumentalen Teil. Das ist die Grundidee. Zwillinge."
Die Stimme als Instrument
Ich frage Julienne, wie sie ihre Musik beschreiben würde, wohl wissend, dass dies eine heikle Frage ist, egal welcher Kunstschaffenden man sie stellt. Aber es ist eine Frage, die sich jede:r Künstler:in stellen muss. In Zeiten der unendlichen Möglichkeiten geht es darum, seine Themen zu destillieren und einen künstlerischen Fokus zu finden. Fantastic Twins hat ihr Thema in den Zwillingen und ihren Fokus in ihrer Stimme gefunden. "Gesang ist ein Material, mit dem ich gerne arbeite. Weil sie einzigartig ist, kann man sie auf viele Arten verändern. Und ich habe das Gefühl, dass man die Suche nie beendet."
Die Live Sets von Fantastic Twins sind voller Energie, eine hochemotionale Reise durch die viele Worte fliegen. Aber ihr Verwendung von Lyrics ist nicht vergleichbar mit dem Ansatz eines Singer/Songwriters. "Wenn ich einen Spoken-Word-Song mache, dann achte ich auf den lyrischen Inhalt. Aber im Moment drifte ich irgendwie davon ab, und es kommt nicht auf die Worte an. Es geht um den Klang und darum, wie sehr ich die Stimme transformieren und bearbeiten kann und mit ihr spielen kann, als wäre sie ein anderes Instrument."
Das Universum der Musikerin ist voll von Texten, die eher als Noten oder Harmonien fungieren. Zusammen mit der Musik schaffen sie einen Raum, in dem Gefühle zu hören sind, in dem Stimmen, die etwas sagen, Teil der Komposition werden. Die Texte werden zu einem integralen Bestandteil der gesamten Instrumentierung. "Ich tendiere dazu, die Texte auf sehr wenige Worte zu reduzieren und ziele auf das Unterschwellige ab, auf etwas, das bei den Menschen auf viele verschiedene Arten ankommt und Raum für Interpretationen lässt. Ich halte mich von Texten fern, die dem Hörer:innen eine Erzählung aufzwingen. Ich habe erkannt, dass man in der Musik nicht viele Worte braucht, um eine Geschichte zu erzählen. Was mich bei der Arbeit mit Gesang interessiert, ist, einen Dialog in der Musik zu schaffen, und ich finde, dass ich das viel besser durch verschiedene Klangbearbeitungstechniken als durch Worte erreichen kann."
Selbst wenn sie Emotionen erzeugt, mit all dem Fokus auf den Dialog und das ganze Fantastic Twins Universum, ist Julienne in erster Linie ein Geek.
Ich neige dazu, den Aufbau zu ändern, weil ich mich sonst langweile. Ich bin ein Geek. Ich mag Maschinen. Ich kaufe gerne neue Geräte.
"Im Moment habe ich ein kleines modulares Duo-Rack, das hauptsächlich aus modularen Effekten besteht, und ich habe einen Sampler." Ich habe auch ein paar Effektgeräte. Und dann noch ein paar MIDI-Controller und die Live-Vocals."
Obwohl sie gerne und viel mit ihrem Setup experimentiert, muss Julienne auch an die Praktikabilität denken. Die meisten Produzenten, die einen Live-Auftritt machen, haben nicht die gleiche logistische Unterstützung wie eine Band. Sie sind oft allein unterwegs. Meistens spielen sie auch auf Festivals oder in Clubs, jedes zweite Wochenende. Ich habe im Laufe der Jahre mit vielen Künstler:innen der elektronischen Musik gesprochen, und es ist ein Lebensstil, den man lieben muss, um ihn konstant ausüben zu können. "Ich versuche, meine Ausrüstung auf das zu reduzieren, was ich mit mir herumtragen kann. Das ist eine ganze Menge. Ich trage jedes Wochenende 25 Kilo. Da muss man also Kompromisse eingehen."
"Es ist sehr mutig, ein solches Lineup zu haben"
Als ich Julienne frage, was sie mit dem Namen unseres Festivals Detect assoziiert, sagt sie: "Das erste, was mir einfiel, war: die Suche nach Frequenzen. Denn Detect ist nicht das Offensichtliche. Man muss danach suchen, man muss aufmerksam sein, um etwas zu entdecken. Man muss die richtigen Frequenzen finden und sich auf diese einstimmen. Das passt zum Namen des Festivals. Den richtigen Klang zu finden und nicht das Offensichtliche, nicht unbedingt das Erste, was man überall hören kann. Und ich denke, das ist es, was das Festival tut.
"Es gibt eine Menge Artists, die ich nicht kenne. Und das ist es, was ich an dem Festival mag. Es ist abenteuerlich. Es ist nicht das, was man sonst überall zu sehen bekommt. Das weiß ich zu schätzen, und ich finde es sehr mutig, ein solches Programm auf die Beine zu stellen. Und auch die Tatsache, dass es verschiedene Musikgenres umfasst, zeigt, wie sehr die Musik miteinander verbunden ist. Und deshalb ist die Frage nach den Genres letztlich auch nicht so wichtig. Denn man kann durch so viel navigieren. Und Musik ist immer miteinander verbunden." In gewisser Weise versuchen das Festival und Julienne als Künstlerin dasselbe zu tun: Punkte zu verbinden und daraus etwas Neues zu schaffen. Aber natürlich gibt es für Fantastic Twins einen großen Unterschied zwischen ihrer Arbeit auf und abseits der Bühne.
Ein Roboter mit Herz
"Eine Live-Performance und eine Platte zu machen sind zwei ganz verschiedene Dinge." Man kann zwar beides kombinieren, aber ich denke, jedes hat seine eigenen spezifischen Bedürfnisse und Anforderungen. Wenn ich für ein Live Set arbeite, dann arbeite ich auf eine ganz andere Weise. Außerdem hat man nicht immer die Kontrolle über die Umgebung, in der man auftritt. Vielleicht ist man in einem sehr kleinen Club mit einem hervorragenden Soundsystem. Oder man spielt auf einem großen Open-Air. Alles ändert sich, und ich denke, man muss... Ohne der Funktionalität völlig zu verfallen, muss man sich dennoch auf jede Art von Bühne einstellen können. "Und man muss vielleicht Kompromisse eingehen, die man nicht eingehen muss, wenn man Musik für Platten macht."
"[Wenn ich] Musik für Platten mache, will ich die ganze Freiheit haben. Ich will auch die volle Freiheit, was die BPM angeht, ob ich Beats will oder ob ich keine Beats will. Für das Live Set neige ich dazu, ein Tempo zu spielen, in dem die Leute tanzen wollen. Aber selbst wenn man diese Dinge im Hinterkopf hat, kann man immer noch etwas Neues ausprobieren und abenteuerlich sein. Und man muss nicht wie ein Roboter sein. Man kann immer noch versuchen, Emotionen zu erzeugen.
Und genau das tut Fantastic Twins weniger als zwei Stunden nach dem Interview. Der Regen hat endlich aufgehört, es ist Samstagabend, und alle sind irgendwie vom Wetter einmal durchgepustet. Die hungrigen Tänzer:innen werden noch stundenlang nicht schlafen gehen. Julienne muss nach ihrem Auftritt direkt los. Wenn sie nicht gerade im Studio ist oder Musik für Filme komponiert, ist sie eine reisende elektronische Musikerin.
Wenigstens ist sie nicht allein. Sie hat einen Zwilling.